Rayk Goetze

"Schlagseite"


15. 01. 2010 - 09. 02. 2010


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÷SCHLAGSEITE÷ bezeichnet eigentlich die situation eines schiffes, das schief im wasser liegt - es hat schlagseite. entweder sind einige sektionen mit wasser vollgelaufen oder ein teil der ladung hat sich, womöglich wegen des hohen seegangs aus der befestigung gelöst und ist auf eine seite des laderaums gerutscht. (der künstler ist gelernter stahlschiffbauer). in jedem falle ist das schiff nur eingeschränkt manövrierfähig und befindet sich je nach wetterlage und entfernung zu einem hafen in einer sehr gefährlichen situation. es reicht wenig, damit wasser über die reling tritt und den zustand zunehmend verschlimmert und es ist fast aussichtslos die schlagseite aus eigener kraft zu beheben.

Rayk Goetze


Ex - Voto (Madonna) dans le gout de Rayk

Ein kleines Mädchen mit blondem Haar, feinseligem Blick und aggressiv verzogenen Mundwinkeln, trägt ein rotes Kleid, dessen Stofflichkeit auch das Hervortreten von Innereien versinnbildlichen könnte. Es ist auf der Einladungskarte und in der Einzelausstellung „Schlagseite“ von Rayk Goetze zu sehen. Ihr Blick ist nicht spontanen Gefühlen, wie Zorn oder Trotz, zuzuordnen, sondern es liegt etwas Verharrendes in ihm, als warte das Kind auf den richtigen Zeitpunkt um (wie auch immer geartet) zuzuschlagen. Dieses voraussichtige Abwarten entspricht nicht ihrem Lebensalter und entfremdet ihre kindliche Gestalt in einem Maße, dass sie aus einer anderen Welt entschlüpft sein könnte, in der Dämonen und böse Geister leben.

Die reife Frau, als Gegenstück zum Mädchen, findet ihren Auftritt in dem monumentalen Bild „Übermutter“. Sie zeigt ihr Bewusstsein über die eigene Geschlechtlichkeit, indem sie ihr Geschlecht mit gespreizten Beinen offenlegt. Dabei posiert sie nicht anmutig, als lockende Sirene, sondern steht in ihrer Mitte wie ein Krieger. Ihre Augen sind verschlossen und zeigen den kriegerisch atypischen Zustand der Verinnerlichung an. Offenbar rechnet sie mit keiner Gefahr, denn nicht nur die Augen blenden einen möglichen Feind aus, sondern auch die Arme sind eng um den Körper geschlungen und in keiner Weise kampfbereit. Ihr Fehlen, sowie das Fehlen der Beine, die in einer unbestimmten Farbfläche verschwinden, wecken Assoziationen zu steinzeitlichen Mutterkultfiguren, wie bspw. der Venus von Willendorf, die ebenfalls ohne Extremitäten dargestellt wurden. Für die Verkörperung von Fruchtbarkeit genügte es diese Figuren auf Vulva und Brüste, also das Gebärende und das Nährende, zu reduzieren. In diesem Bild sind die Brüste mit einem Tuch verhüllt, unter dessen Saum auf Brusthöhe ein flächiges, grünes Ei hervorragt, das von einer magentafarbenen Gloriole umschrieben ist.

Ein weiteres Blickzentrum ist die blonde Haarpracht der Übermutter, die sich farblich stark vom dunkelvioletten Hintergrundfarbton abhebt, in mehreren welligen Spitzen vom Kopf absteht und ihr Gesicht wie ein Lichtkranz rahmt. Oder soll durch das leonide Attribut der Löwenmähne ihre Heldenhaftigkeit unterstrichen werden? Sind es Sonnenstrahlen? das Medusenhaupt? Ein weiterer Heiligenschein? Ist diese Mutter Lichtgestalt oder Heldin? Ein weiterer Dämon oder eine mythologische Gestalt, deren Anblick versteinert? Sie wandelt geisterhaft, scheint nur für das gebärende Prinzip zu existieren und verkörpert einen Charakter, von dem eine eigenartige Schönheit ausgeht, die jenseits des Ideals, sowohl abstößt, als auch fasziniert. Die Frage, warum die Pose der entblößten Scham sie nicht verletzlich macht, sondern ihre Stärke zu unterstreichen scheint, irritiert zunächst, lenkt aber im nächsten Moment zur Idee des matriarchalischen Systems, das dem Patriarchat vorausging und durch Mutterschaft und das Wissen über die Nachkommen, gesichert wurde.

Wird in vielen Werken der Ausstellung der Gefühlsausbruch vertagt, so verbindet sich die dionysische Malweise von Rayk Goetze im Bild „Übermutter“ motivisch mit einer Gestalt, die sich über Affekte erhebt und ganz im Winkelmann`schen Kanon für „edle Einfalt“ und „stille Größe“ stehen könnte und damit für ein apollinisches Prinzip, das in einer Malweise vorgetragen wird, die gerade zu nach Ausbruch schreit.

Diese Spannung zieht sich durch die Mehrzahl der Bilder, in denen nicht vordergründig, wie der Titel gemeint sein könnte, auf den Gewaltakt an sich gelenkt wird, sondern Rayk Goetze motivisch ein sehr breites Spektrum von Perspektiven des Themas Gewalt aufreißt, die auch stilistisch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen. In allen Werken zeigt sich jedoch deutlich, dass das Hauptaugenmerk des Malers der Augenblick ist, an dem die Bedrohung der physischen Existenz sich erst andeutet, bzw. die Beschädigung des Körpers als Relikt einer schon begangenen Gewalttat übrig geblieben ist. Es sind innere Dämonen und Bilder, die zuweilen den Blick auf die Wirklichkeit deformieren und einen konstruktiven Zugang zur Welt versperren. Doch handelt es sich, wie bei Charles Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ um reizvolle Abgründe und Grausamkeit, die unter dem Schafott der Form, weder Schönheit noch Erotik verbannen und stilistisch über Vermeer und Rembrandt bis hin zum possenhaften Stil der Karikatur reichen und sogar Rayk Goetzes zeichnerisches Werk einbinden. Warum also nicht dem „bösen Mädchen“ folgen, wenn die Hölle menschlicher Gewalt so schön aussehen kann?

Sandra
Kühn